Zweikampfstark, abgebrüht, wissbegierig

 Legt Samuel Röthlisberger so richtig los, kann er für seinen Gegenüber ein schier unüberwindbares Hindernis werden. Für seinen Gesprächspartner, wenn der 23-Jährige Schwyzerdütsch parliert. Oder für seine Gegenspieler, wenn er für den Handball-Erstligisten TVB Stuttgart auf dem Spielfeld steht und seine 198 Zentimeter Körpergröße – mit einer Spannweite eines Segelflugzeuges – in Position bringt. Zur Saison 2017/2018 war Samuel Röthlisberger – mit erst 21 Jahren – vom Schweizer Erstligisten BSV Bern Muri in die erste deutsche Bundesliga gewechselt. Mittlerweile hat er mit der Schweiz an der Europameisterschaft teilgenommen, und mindestens ein Jahr wird Röthlisberger noch das TVB-Trikot tragen.

In der neuen Spielzeit wird er nach Dominik Weiß und Jogi Bitter – zusammen mit Max Häfner – zu den dienstältesten Akteuren im Kader gehören. „Vor ein paar Wochen hat mich Max darauf aufmerksam gemacht“, sagt Röthlisberger. „Das ist schon lustig.“ Der Abwehrspezialist ist längst nicht mehr wegzudenken aus dem Team des TVB und aus der Schweizer Nationalmannschaft, seine Trainer loben ihn in den höchsten Tönen. „Der Samuel ist die Konstante in unserer Verteidigung“, sagte der Schweizer Nationalcoach Michael Suter dem Medienkonzern MySports vor der Europameisterschaft. „Er ist extrem zuverlässig und hält die Defensive zusammen.“ Auch Röthlisbergers Vereinstrainer Jürgen Schweikardt schwärmt von „unserem besten Eins-gegen-eins-Verteidiger“. Es sei bemerkenswert, wie abgezockt er in seinen jungen Jahren auftrete. „Er strahlt eine Ruhe aus, als wäre er schon zehn Jahre in der ersten Liga.“

Zudem sei Röthlisberger sehr professionell. Das ist er auch außerhalb des Spielfeldes. Bereits bei seinem Amtsantritt im Juli 2017 hatte Röthlisberger davon gesprochen, nach einer kurzen Erstliga-Akklimatisierung ein Studium aufnehmen zu wollen. Es fülle ihn nicht aus, sich alleine auf den Handball zu konzentrieren. Zeit genug, den Horizont etwas zu erweitern, sei parallel zum Profi-Handballdasein jedenfalls allemal. Mittlerweile studiert er im siebten Semester Wirtschaft – per Fernstudium in der Schweiz. „Die deutschen Abschlüsse werden nicht alle anerkannt in der Schweiz, das ist ein bisschen kompliziert“, sagt er. So sei er auf der sicheren Seite, wenn er irgendwann nach dem Karriereende wieder in sein Heimatland zurückkehre. Zu den Prüfungen muss Röthlisberger nach Zürich fahren. Gepaukt wird online, über Podcasts oder Scripts. Es läuft alles so, wie es sich der junge Mann vorgestellt hat. Die Freundin ist inzwischen aus der Schweiz zu ihm nach Fellbach gezogen, sie arbeitet in Bad Cannstatt. In unmittelbarer Nachbarschaft in Fellbach wohnt Röthlisbergers Mannschaftskollege Rudolf Faluvégi mit Frau und Kind. Der Ungar ist einer der neuen Spieler, die zur aktuellen Saison zum TVB gestoßen waren und ein paar Startschwierigkeiten hatten.

„Mittlerweile greifen die Rädchen viel besser ineinander“, sagt Röthlisberger. „Es sieht alles flüssiger aus.“ Schneller als im Angriff fand die neu formierte Mannschaft in der Abwehr zueinander. Für den Mittelblock, wo Röthlisberger zu Hause ist, hat der Trainer Jürgen Schweikardt in dieser Saison die Qual der Wahl. Mit Dominik Weiß, Adam Lönn und Manuel Späth stehen hier gleich drei weitere Kandidaten zur Verfügung. Nicht jeder aus dem Quartett taugt allerdings auch für die Halbposition in der Deckung – Röthlisberger schon. „Ich habe da schon ein bisschen gebraucht“, sagt er. Im Mittelblock müsse er hauptsächlich dirigieren, auf Halb mehr Zweikämpfe führen. Für den Hünen ist das dank seiner ausgezeichneten Antizipationsfähigkeit, seines guten Stellungsspiels und seiner – trotz seiner Größe – flinken Beine in der Regel kein Problem. Wobei er hier und da doch vor besondere Herausforderungen gestellt wird. Wie beispielsweise im jüngsten Spiel, als er dem Magdeburger Michael Damgaard gegenüberstand. „Der ist schon Weltklasse“, sagt Röthlisberger. „Sein Eins-gegen-eins, er geht auf beiden Seiten vorbei und hat unwahrscheinlich viele Wurfvarianten drauf.“ Damgaard ist freilich nicht der einzige Kontrahent, der Röthlisberger in den fast drei Jahren Bundesliga beeindruckt hat. „Da gibt’s einige tolle Spieler.“ So sei der Leipziger Philipp Weber ungemein schnell auf den Beinen. Auch die beiden Kieler Miha Zarabec und Nikola Bilyk seien „eklige“, sprich unangenehme Gegenspieler. Und natürlich Andy Schmid. Röthlisbergers Nationalmannschaftskollege zählt zu den weltbesten Spielmachern. Mit einem anderen Weltstar spielt Röthlisberger seit ein paar Wochen zusammen: Christian Zeitz. „Ich habe zwar mitgekriegt, dass er in der Kabine nach dem Leipzigspiel und der Verletzung von David ein Thema war.“ Und doch sei er überrascht gewesen, als der Weltmeister plötzlich im Training auftauchte. Die riesige Erfahrung, die Zeitz mitbringe, sei sofort zu spüren gewesen. „Und seine Unbekümmertheit, mit der er die Dinge angeht.“ In der Abwehr habe Zeitz immer noch ein Näschen dafür, die Bälle rauszufischen. 

Samuel Röthlisberger ist stolz darauf, dass er mit solchen Handballgrößen auf dem Spielfeld stehen darf. Und die freuen sich über den Youngster, der mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht. So lobte Jogi Bitter vor ein paar Monaten seinen Mannschaftskollegen. Röthlisberger sei von Anfang an sehr wissbegierig gewesen. „Er hat mich gefragt, wie er sich verhalten soll, damit er mich besser unterstützen kann. Ich finde das super.“ Für Röthlisberger ist es „völlig normal, dass man sich austauscht, das ist ganz wichtig“. Lernen kann er nicht nur von Bitter. Den größten Nachholbedarf hat der Schweizer in der Offensive, seine Einsatzzeiten am Kreis sind überschaubar. Noch, denn in der nächsten Saison soll sich das ändern. Weil Manuel Späths Vertrag nicht verlängert wird, bildet Röthlisberger zusammen mit Zarko Pesevski das Kreisläuferduo. Röthlisbergers Ziel ist es, nach und nach die Rolle des Abwehrspezialisten abzustreifen. Auch wenn die Chancen auf mehr Spielanteile in der Offensive steigen: Röthlisberger bedauert Späths Weggang. „Manu wird uns mit seiner enormen Erfahrung und seinen Führungsqualitäten sicher fehlen, er hinterlässt eine große Lücke.“ Künftig müssten andere Spieler Späths Rolle übernehmen. Auch Röthlisberger selbst? „Ich versuche es“, sagt er. „Ich kommuniziere zwar besser mittlerweile, es ist aber nicht ganz einfach, weil ich von meinem Naturell her eher ruhig bin.“ Aktuell beschäftige er sich aber noch nicht mit der neuen Saison. Schnellstmöglich will er mit dem TVB den Ligaverbleib sichern. „Wir sind auf einem guten Weg“, sagt er. „Aber man weiß nie, was am Ende einer Saison so alles passiert.“ Möglicherweise passiert auch gar nichts mehr in dieser Spielzeit wegen der Corona-Pandemie und ihrer noch unvorhersehbaren Auswirkungen. Wie seine Kollegen, so hält sich auch Samuel Röthlisberger derzeit individuell fit.

Quelle: Thomas Wagner / ZVW