Saisonrückblick: Die Weltmeister verleihen Flügel

In 27 Spielen parierte Johannes Bitter 281 Würfe – so viele wie kein anderer Erstliga-Torhüter in der vergangenen Saison. Auf den Weltmeister von 2007 setzt der TVB auch in der neuen Spielzeit, noch indes hat der 37-Jährige keinen neuen Vertrag unterschrieben. 

Im fünften Jahr in der ersten Handball-Bundesliga hat der TVB Stuttgart mit Rang zwölf seine beste Platzierung erreicht. Die aufgrund der Corona-Pandemie verkürzte Spielzeit war für den TVB zudem die ereignisreichste – ein kurzer Rückblick.

Von acht – überwiegend erfahrenen – Spielern hatte sich der TVB verabschiedet. Die sechs Neuen waren, mit Ausnahme von Patrick Zieker, Bundesliga-Novizen. Mit diesem radikalen Umbruch gingen die Bittenfelder ein großes Risiko ein – und schienen einen hohen Preis dafür zu bezahlen: Nach sechs Spieltagen und der verheerenden Bilanz von 1:11 Punkten fand sich das Team von Trainer Jürgen Schweikardt auf einem Abstiegsplatz wieder. Der Einzug ins Pokal-Viertelfinale durch das 30:26 gegen den HC Erlangen war dabei ein schwacher Trost. Es passte wenig zusammen in der neu formierten Mannschaft, die zudem von großem Verletzungspech verfolgt war.

Erster Heimsieg seit neuneinhalb Monaten

Für Aufatmen sorgte der 27:23-Sieg im siebten Spiel in Ludwigshafen, am zehnten Spieltag trotzte der TVB dem Deutschen Meister SG Flensburg-Handewitt beim 23:23 überraschend einen Punkt ab. Das 29:24 gegen den Aufsteiger HSG Nordhorn-Lingen bedeutete den ersten Heimsieg seit neuneinhalb Monaten. Wechselhaft ging’s weiter (31:28 gegen Melsungen, 19:32-Pleite in Hannover). Nach der unglücklichen 32:33-Niederlage gegen Berlin lag der TVB zur EM-Pause mit 12:26 Punkten nur zwei Zähler vor den Abstiegsrängen.

Dass die Bittenfelder mit fünf Spielern bei der EM vertreten waren, ehrte den Verein zwar, doch die Vorbereitung auf die Rückrunde litt. Die Quittung bekam der TVB zum Auftakt in Lemgo: Mit der 23:27-Niederlage rutschte er nach Pluspunkten wieder auf einen Abstiegsrang. Nachdem sich in der folgenden Partie gegen Leipzig mit David Schmidt der zweitbeste Torschütze verletzt hatte, sah’s ziemlich düster aus für das Schweikardt-Team. Zumal es vor sechs Spielen in 22 Tagen stand.

Das Virus stoppte den TVB-Lauf

In der Not legte der TVB personell nach, holte Christian Zeitz für den Rest der Saison aus dem Ruhestand zurück. Es war ein Coup, der nicht nur für ein großes Medienecho sorgte, sondern womöglich mitentscheidend war für den Umschwung. Aus den restlichen sieben Partien sammelte der TVB neun Punkte und zeigte dabei starke Leistungen. Das Virus stoppte schließlich den Lauf, sieben Spieltage vor dem Ende gab’s bei sechs Punkten Polster kaum noch Zweifel am Ligaverbleib.

In die sechste Erstliga-Saison geht der TVB mit einer eingespielten Mannschaft und kann den nächsten Schritt ins Tabellenmittelfeld machen. Ausgetauscht wird der rechte Rückraum: Viggo Kristjansson (HSG Wetzlar) und Jerome Müller (Ludwigshafen) kommen für David Schmidt (zum Bergischer HC) und Robert Markotic (SG Ratingen). Der Routinier und Leader Manuel Späth bekommt keinen neuen Vertrag mehr, für ihn ist kein Ersatz in Sicht.

Quelle: ZVW/Thomas Wagner

Schweikardt ist stolz und besorgt zugleich

Der Saisonabbruch ist das beherrschende Thema gewesen in der fünften Erstliga-Saison des TVB Stuttgart. Für den Trainer und Geschäftsführer Jürgen Schweikardt (40) gab’s allerdings auch etliche andere ungewöhnliche Ereignisse, wie er im Interview mit unserem Redaktionsmitglied Thomas Wagner verrät.

Herr Schweikardt, die Corona-Pandemie hat die Bundesliga-Saison sieben Spieltage früher beendet. Wie schwer fällt es da, ein sportliches Fazit zu ziehen?
Es fühlt sich schon komisch an, nach 27 Spieltagen ein Fazit zu ziehen. Aber wenn jetzt am Ende Platz zwölf herausgekommen ist, dann haben wir damit unser Saisonziel Klassenverbleib übererfüllt. Es war klar, dass es eine schwere Saison werden wird nach dem Umbruch. Ich denke aber, man hat im Februar gesehen, was die Mannschaft leisten kann. Wir hätten sehr gerne weitergespielt, weil ich glaube, dass wir uns auf diesem Niveau, auf dem wir uns befanden, noch einige Punkte geholt hätten.

Mit 1:11 Punkten ging der Saisonstart gründlich daneben, schon am fünften Spieltag fand sich der TVB auf einem Abstiegsrang wieder. Wie bedeutend war der anschließende erste Saisonsieg beim Mitabstiegskandidaten Eulen Ludwigshafen?
Er war sicher eine große Erleichterung, da der Druck für uns schon sehr groß gewesen ist. Es war eines von vielen Schlüsselspielen in dieser Saison.

Bis Weihnachten folgten noch einige starke Auftritte, auch wenn sie nicht immer mit Punkten belohnt wurden. An welche Spiele erinnern Sie sich besonders?
Ungern erinnere ich mich an Berlin. Da hatten wir einen Punkt eigentlich schon sicher und kassierten in der letzten Sekunde noch einen Treffer. Das war sehr ärgerlich. Positiv ist mir das Pokalspiel gegen Kiel im Gedächtnis geblieben, obwohl wir auch knapp verloren haben. Wir waren nah dran, uns fürs Final Four zu qualifizieren.

Überraschend viele Punkte sammelten die Eulen Ludwigshafen, die dem TVB zur EM-Pause mit nur zwei Zählern Rückstand im Nacken saßen. Nach dem schwachen ersten Auftritt im neuen Jahr beim 23:27 in Lemgo lag der TVB nach Pluspunkten auf einem Abstiegsrang, die Kritik am Team und auch am Trainer nahm zu. Wie sehr bangten Sie zu diesem Zeitpunkt erstens um Ihren Job und zweitens um den Ligaverbleib?
Um meinen Job habe ich nicht gezittert, weil ich im ständigen Austausch war mit den Gesellschaftern und wir einen klaren Plan hatten – auch für den Fall, wenn es nicht so laufen würde. Was den Ligaverbleib angeht, wussten wir nach dem Lemgo-Spiel schon, was die Stunde geschlagen hat. Allerdings war die Wintervorbereitung, wie schon die im Sommer, alles andere als optimal. Wir hatten drei Verletzte und fünf Spieler bei der EM. Das war im Vergleich zu den anderen Teams, die mit uns unten drin standen in der Tabelle, ein klarer Nachteil. Wir haben erst zwei Tage vor dem Spiel wieder zusammen trainiert, das hat man deutlich gemerkt. Aber nichtsdestotrotz waren wir in einer sehr schwierigen Situation. Ich glaube, wir können stolz sein, wie wir uns aus dieser befreit haben.

Nachdem sich David Schmidt im folgenden Spiel in Leipzig schwer am Finger verletzte, sorgte der TVB mit der Verpflichtung von Christian Zeitz für Schlagzeilen. Mit ihm holte der TVB aus den folgenden fünf Partien vier Siege und entledigte sich damit nahezu aller Abstiegssorgen. Wie oft haben Sie sich schon selbst gratuliert zu diesem Coup?
(Lacht). Selbst gratuliert habe ich mir natürlich nicht. Es ist jedoch schon so, dass wir uns intensiv Gedanken gemacht haben, ob Christian der Richtige ist. Er ist sicherlich einer, der polarisiert. Als wir ihn zweimal im Training hatten, war aber relativ schnell klar, dass er uns sowohl sportlich helfen kann als auch menschlich gut ins Team passt. Und das hat sich letztlich alles bestätigt.

Der zwölfte Rang ist die beste Bundesliga-Platzierung in fünf Jahren. Wie zufrieden sind Sie mit der Entwicklung der Spieler – der neuen und der etablierten?
Über die Saison hinweg war die Entwicklung durchweg positiv. David Schmidt, Patrick Zieker und Jogi Bitter haben sich zu Nationalspielern entwickelt oder feierten, im Fall von Jogi, ein Comeback. Man muss auch beispielsweise Max Häfner nennen, der sich am Anfang schwergetan hat und hinten raus stärker wurde. Sascha Pfattheicher hat sich super entwickelt. Dass sich die Neuen schwertun würden zu Beginn, war klar. Aber sie haben sich alle weiterentwickelt. Ich denke dabei auch an Rudi Faluvégi. Einzig Elvar Asgeirsson hat ein paar Probleme. Doch das liegt einfach daran, dass wir viele Spieler und Alternativen auf dieser Position haben und ihm einfach die Spielzeit fehlt.

In der Hinrunde machte der TVB auch abseits des Spielfelds von sich reden. Gleich zweimal – gegen Lemgo und Kiel – mussten die Fans in der Scharrena wegen eines Feueralarms evakuiert werden. Denken Sie hin und wieder daran?
Nein. Die Stadt Stuttgart hat ja zusammen mit der Feuerwehr das Konzept ein bisschen umgestellt. Und deshalb bin ich mir sicher, dass das nicht mehr passieren wird. Aber es war schon kurios, dass das gleich zweimal innerhalb so kurzer Zeit passiert ist.

In den Fokus geriet der TVB auch bei der Europameisterschaft. Mit Bitter, Zieker und Schmidt stellte der Verein – zusammen mit der MT Melsungen – die meisten deutschen Nationalspieler. Zudem waren Samuel Röthlisberger mit der Schweiz und Zarko Pesevski mit Mazedonien im Einsatz. Wie stolz macht Sie das?
Sehr stolz. Wenn uns vor zehn oder fünfzehn Jahren jemand gesagt hätte, im Jahr 2020 stellt der TVB die meisten deutschen Nationalspieler bei einer EM, hätten uns alle – und wir selbst uns auch – für verrückt erklärt.

Alles in allem war also einiges los in dieser Saison.
Sie war schon extrem ereignisreich. Der Fehlstart, dann hatten wir lange keinen Linkshänder im rechten Rückraum. Und am Ende kam auch noch der Saisonabbruch.

Der TVB scheint längst zu einer guten Adresse geworden zu sein. Mit Markus Baur, Jogi Bitter, Mimi Kraus und Christian Zeitz landeten gleich vier Weltmeister von 2007 in Stuttgart. Das ist rekordverdächtig.
Auch da gilt: Wenn uns 2007 einer prophezeit hätte, dass diese vier einmal den TVB trainieren oder bei ihm spielen würden, hätte das keiner geglaubt. Ich denke, es zeichnet uns aus, dass wir ein professioneller Verein sind, der eine gute Arbeit macht. Bei uns fühlen sich diese Leute wohl. Aber nicht nur die Weltmeister, sondern auch beispielsweise Rudi Faluvégi, der ebenfalls auf hohem Niveau gespielt hat. Oder Zarko Pesevski. Das ist ein Verdienst der Zuschauer, Sponsoren und aller Mitarbeiter, die einen guten Rahmen schaffen.

Sie haben schon mehrfach betont, dass sich der wirtschaftliche Schaden für den TVB Stuttgart in dieser verkürzten Saison in Grenzen halten wird. Wie sehr jedoch beunruhigt Sie die ungewisse Situation, wann und unter welchen Rahmenbedingungen die kommende Spielzeit starten wird?
Das beunruhigt mich schon, weil wir nicht vernünftig und zielgerichtet planen können. Es ist eine Situation, die wir noch nie hatten. Wir haben immer davon gelebt, finanziell solide und vorausschauend zu arbeiten. Ich hoffe einfach, dass es bald eine medizinische Lösung geben wird gegen das Virus. Wir müssen jetzt abwarten, wie die Politik entscheidet. Mir ist natürlich bewusst, dass sie aktuell keine verlässlichen Angaben machen kann, wann und in welcher Weise es weitergeht.

Diesbezüglich dürfte es aber allen Vereinen gleich gehen.
Richtig. Der eine oder andere geht möglicherweise etwas anders mit der Situation um und investiert doch noch in Spieler. Ich gehe allerdings davon aus, dass die meisten das nicht machen werden, weil sie auch nicht wissen, welche Gelder sie zur Verfügung haben werden in der nächsten Saison.

Mit den Kaderplanungen waren Sie früh weit vorangeschritten. Es fehlen noch die Unterschrift von Jogi Bitter und ein zweiter Torhüter. Zu Beginn des Jahres war der iranische Keeper Saeid Heidarirad ein Kandidat. Was ist eigentlich daraus geworden?
Es stimmt, wir hatten Kontakt. Er hat in der Champions-League hervorragende Leistungen gezeigt. Wir waren auch sehr weit in den Verhandlungen. Aber am Ende hat es sich doch zerschlagen, deshalb ist die zweite Torhüterposition noch offen.

Auch über einen weiteren Kreisläufer hatten Sie sich Gedanken gemacht. Hat sich diese Personalie aufgrund des anstehenden Sparkurses mittlerweile erledigt?
Das ist tatsächlich aktuell kein Thema. Wir müssen erst einmal abwarten, welche finanziellen Möglichkeiten wir nächste Saison haben werden. Fynn Nicolaus wird auf jeden Fall intensiver am Trainingsbetrieb teilnehmen. Trotzdem haben wir hier noch eine kleine Lücke im Kader.

Wie geht’s in den kommenden Wochen weiter?
Bis jetzt war die Hauptaufgabe, die laufende Saison abzuwickeln. Wir haben mit Sponsoren, Spielern und Dauerkartenbesitzern gesprochen. Jetzt richten wir langsam den Blick nach vorne, soweit dies möglich ist. Wir beschäftigen uns mit ein paar Szenarien – auch wenn wir wissen, dass wir die meisten wieder verwerfen müssen. Wir sind weiterhin im Austausch mit unseren Sponsoren im Hinblick auf die neue Saison. Wir bereiten außerdem den Dauerkartenverkauf vor und tüfteln ein Konzept aus, das variabel ist und wir entsprechend reagieren können, sollte es doch Geisterspiele geben.

Quelle: ZVW/Thomas Wagner